Masaoka Tsunenori (der erste ist, wie in Japan üblich, der Familienname) stammte aus einer Gegend im heutigen Stadtgebiet von Matsuyama, Präfektur Ehime, wo er 1867 geboren wurde. Sein Vater stand im Dienst eines Regionalfürsten, die Mutter entstammte einer Gelehrtenfamilie. Ab 1883 besuchte er die höheren Schulen in Tôkyô und schrieb sich 1890 an der Universität ein; zu diesem Zeitpunkt war er bereits ein anerkannter Haiku-Dichter. Den Künstlernamen Shiki (“Gackelkuckuck”) verwendete er, seit 1889 bei ihm erstmals Bluthusten aufgetreten war, in Anspielung auf die rote Zunge dieser Kuckucksart, die den Anschein erweckt, als speie der Vogel Blut beim Singen. Ab 1892 arbeitete Masaoka als Journalist und während des japanisch-chinesischen Kriegs 1894/95 ungeachtet seiner fragilen Gesundheit als Kriegsberichterstatter. Zurückgekehrt, gründete er in seiner Heimatstadt Matsuyama die berühmte, heute noch bestehende Haiku-Zeitschrift Hototogisu (ein anderer Name für den Gackelkuckuck) und entfaltete eine rege literarische Tätigkeit in den Bereichen Lyrik, Prosadichtung, Essayistik und Literaturkritik. Die letzten Jahre seines Lebens, das bereits 1902 im Alter von 35 Jahren endete, kämpfte Shiki, bis zuletzt unermüdlich schreibend, gegen die Tuberkulose, an der er erkrankt war.
Gegenüber gewissen Tendenzen zur Verkünstlichung und Literarisierung im traditionellen Haiku der Edo-Zeit stellte Shiki, der als bedeutender Erneuerer der Gattung gilt, die Forderung des shasei auf (“die Dinge so beschreiben, wie sie sind”). Statt konstruierter, anspielungsreicher Gedichte verlangte und schuf er solche, die in schlichter Weise authentische, erlebte Momente der Begegnung mit Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Das geht so weit, dass, wie seine Biographin und englische Übersetzerin Janine Beichman schreibt, “some [of his haiku], in fact, are so simple and bare that in translation they are difficult to differentiate from the most banal prose”.
Die Übersetzungen stammen von Gerolf Coudenhove (GC), Thomas Hemstege (TH), Dietrich Krusche (DK) und Jan Ulenbrook (JU).
Gegen vier Uhr nachts
Krähen, um fünf Uhr Spatzen,
dann wird es schon hell.
(TH)
Kurze Sommernacht –
Meine Lampe brennt ja noch –
Horch – schon schlägt es vier.
(GC)
Die Kakiblüten
sind abgefallen – oben
auf die Lehmmauer.
(TH)
Im Dunkel der Nacht
verbreiten sie ihren Duft,
die Lotusblüten.
(TH)
Tropfen für Tropfen
weht der Wind Regen herein –
der Bambusvorhang.
(TH)
Sommerregenguss –
und den Karpfen klopfen die
Tropfen auf den Kopf.
(GC)
Der Sturm des Sommers
fegt alle Papiere fort
von meinem Schreibtisch.
(TH)
Vom Haus des Fischers
Gestank von trocknen Fischen
bei dieser Hitze.
(JU)
Der grosse Buddha
ist kühl bis ans Herz
in der Hitze.
(DK)
Sommerfluss.
Da ist eine Brücke, doch
das Pferd geht durchs Wasser.
(DK)
Die Pferdebremse
geht mir vom Strohhut nicht weg
bei dieser Hitze.
(JU)
Das Wetter zieht ab:
der Baum im Rot des Abends
und Grillenzirpen.
(JU)
Der Berg wird ganz still,
nachdem die Schlange entfloh.
Lilienblüten.
(TH)
Die Parkanlage.
Einsam sucht dort Erfrischung
ein reisender Mann.
(TH)
Vom Krankenlager
geht der Blick in den Garten
zur Päonie.
(TH)
Meine Lebenszeit,
ach, wie lange währt sie noch?
Ja, die Nacht ist kurz…
(GC)
Auf roten Nelken
der weisse Schmetterling –
von wem die Seele?
(JU)
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