Sommer –
Jahreszeit im Zeichen des Feuer-Elements

Liebe Qi Gong- und Taiji-Interessierte
Liebe Freunde der inneren Kultivierung

In China ist seit alters ein Lunisolarkalender in Gebrauch, der das neue Jahr jeweils mit dem zweiten Neumond nach der Wintersonnwende beginnen lässt. Da zwölf Mondzyklen nur 12 x 29 = 348 Tage ergeben, benötigt dieses Kalendersystem in gewissen Abständen Schaltmonate. Daneben ist aber auch ein reiner Sonnenkalender wie unser gregorianischer gebräuchlich, der dort als Bauernkalender bezeichnet wird und das Jahr in vier Jahreszeiten und vierundzwanzig Jahresabschnitte zu 15 bzw. 16 Tagen einteilt. Allerdings markieren die Sonnwenden und die Tag-und-Nacht-Gleichen nicht wie bei uns den Beginn, sondern den Höhepunkt, die zeitliche Mitte der jeweiligen Jahreszeit. Der Sommeranfang (Lixia) fällt demnach bereits auf die Tage um den 5. und 6. Mai. Die weiteren Abschnitte des Sommers sind Xiaoman (Kleine Fülle), Mangzhong (Körner mit Grannen), Xiazhi (Sommersonnwende), Xiaoshu (Kleine Hitze) und schliesslich, Ende Juli bis Anfang August, Dashu (Grosse Hitze). Wie man den Bezeichnungen entnehmen kann, bezieht der Bauernkalender das Erfahrungswissen über klimatische Verläufe, Vegetationsperioden und Zyklen der Feldwirtschaft ein.

Im System der fünf Wandlungsphasen (Wu Xing) ist der Sommer durch das Element Feuer und die Farbe Rot bestimmt, durch die Naturkräfte in ihrer vollen Blüte, die höchste Entfaltung der Yang-Energie. Der prägende Klimafaktor ist die Hitze. Im I Ging entspricht dem Feuer-Element das Trigramm Li (“das Haftende”, Feuer als die erhellende und klärende Kraft, auch im Sinne des Bewusstseins, des Geistigen); es ist dem Süden, dem Mittag zugeordnet.

Im Medizinklassiker Huangdi Neijing heisst es vom Sommer:

In den drei Monaten des Sommers herrscht Überfluss an Sonnenschein und Regen. Die Energie des Himmels steigt hinab, die Energie der Erde steigt auf. Vermengen sich diese beiden Energien, findet ein Austausch zwischen Himmel und Erde statt. Das ist der Grund dafür, dass Pflanzen reifen und Tiere, Blumen und Früchte reichlich erscheinen. Zu dieser Zeit des Jahres mögt Ihr Euch etwas später zurückziehen, aber Ihr solltet immer noch früh am Morgen aufstehen. Meidet Zorn und bleibt körperlich rege, um zu verhindern, dass die Poren sich schliessen und das Qi stagniert. Ihr solltet keinem allzu intensiven Sexualleben frönen, obwohl es ein bisschen intensiver sein darf als zu anderen Jahreszeiten. Auf emotionaler Ebene ist es wichtig, fröhlich und heiter zu sein und keinen Groll zu hegen, damit die Energie frei fliessen und eine Kommunikation zwischen innen und aussen herstellen kann. So könnt Ihr vermeiden, dass im Herbst Krankheiten auftreten. (…) Schwierigkeiten im Sommer können das Herz schädigen und manifestieren sich im Herbst.
(Zitiert nach Maoshing Ni: Der Gelbe Kaiser. Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin. Frankfurt a.M. 1998.)

Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) empfiehlt, in dieser Jahreszeit dem Organ-Funktionskreis Herz – Dünndarm, der dem Feuer-Element zugeordnet wird, besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Das Herz gilt als das allen anderen übergeordnete Organ, als “Kaiser” im Reich des Körpers, denn es ist der Sitz des Shen (wörtl. Geist), des Bewusstseins, der geistigen Persönlichkeit, der spirituellen Energie eines Menschen. Es herrscht über das Yang-Qi, welches den Blutkreislauf antreibt und damit sämtliche Lebensfunktionen aufrechterhält. Blut, Blutgefässe und Kreislaufsystem gehören zum Herz-Funktionskreis ebenso wie die Zunge, der “Spross des Herzens”, und der Dünndarm, dem es obliegt, den aus dem Magen eingehenden Nahrungsbrei aufzunehmen, dessen “reine” Anteile von den “unreinen” zu trennen und letztere an den Dickdarm weiterzugeben.  

Leben im Einklang mit den Jahreszeiten – das bedeutet im Sommer, sich ganz bewusst an all den Schönheiten zu erfreuen, die die Natur jetzt in Fülle hervorbringt, denn Freude ist die Grundemotion des Herzens. “Geh aus, mein Herz, und suche Freud’ / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben”, beginnt ein bekanntes Lied des evangelischen Geistlichen und Dichters Paul Gerhardt (1607-76). Es bedeutet im weiteren, die Feuer-Energie zu nutzen, um das Yang-Qi im Körper zu stärken und so in der kalten und dunklen Jahreszeit besser geschützt zu sein. Dazu nochmals das Huangdi Neijing:

Das Yang-Qi des Körpers ist wie die Sonne. Verliert diese ihren Glanz und ihr Leuchten, stellen alle Dinge auf der Welt ihre Aktivitäten ein. Die Sonne ist höchstes Yang. Diese himmlische Energie der Sonne, das Yang-Qi, umgibt die Erde. Auf der körperlichen Ebene bedeutet dies, dass das Yang-Qi um das Zentrum, die Mitte, zirkuliert und die Funktion hat, den Körper zu schützen. (Ebda.)

Eine ausgezeichnete Methode, um Sonnenenergie zu tanken, ist das frühmorgendliche Qi Gong-Stehen (Zhan Zhuang) nach Osten, am besten natürlich im Freien. Auch massvolles Sonnenbaden in unbekleidetem Zustand empfiehlt sich, um die inneren Organe mit Yang-Qi aufzuladen. Überhitzung und starkes Schwitzen hingegen sind unbedingt zu meiden, denn zuviel Hitze belastet Herz und Kreislauf und schwächt auch den Dünndarm und damit die Verdauungsfunktion.

Und hier weitere Übungen für das Feuer-Element bzw. den Herz-Dünndarm-Funktionskreis:

  • Öffnen und Erweitern des Brustkorbs, die 2., Rudern auf einem ruhigen See, die 6., sowie Mit einer Hand die Sonne heben, die 7. der “Taiji-ähnlichen Qi Gong-Übungen in achtzehn harmonischen Figuren” (Shibashi)
  • Die 2. sowie die 5. der acht Brokatübungen (Ba Duan Jin): Den Bogen nach links und rechts spannen und auf den Adler zielen; Mit dem Kopf nicken und das Steissbein bewegen, um das Feuer des Herzens zu vertreiben
  • Die Herz-Übung (mit dem Laut hhaah) aus den Sechs heilenden Lauten
  • Meditation: Inneres Lächeln mit Aufmerksamkeit im Zentrum des Brustraums, dem Bereich des mittleren Dantian (“mit dem Herzen lächeln”)
  • Sanfte, kreisende Massage (Uhr- und Gegenuhrzeigersinn) im Bereich des Herzens, leicht links von der Brustmitte, mit übereinander gelegten Händen und in Übereinstimmung mit dem Atem; auch behutsam tätschelnde Massage mit der flachen Hand
  • Dünndarm-Massage: mit übereinander gelegten Händen in kleinen Kreisen je 9- bis 12-mal im Uhr- und im Gegenuhrzeigersinn um den Bauchnabel streichen
  • Akupressur von HE 7 Shenmen (“Tor des Geistes”, auf der Beugefalte des Handgelenks in einer Vertiefung vor deren kleinfinger- bzw. ellenseitigem Ende, an beiden Händen); von REN 17 Shanzhong (“Brustmitte”, auf der Mitte des Brustbeins); von REN 4 Guanyuan (“Umschlossene Ursprungsenergie”, Alarmpunkt des Dünndarms, auf der vorderen Mittellinie vier Fingerbreit unterhalb des Bauchnabels)
  • Yang-Stil-Taiji Quan: fröhliche und entspannte Partnerübungen wie Tui Shou (“Schiebende Hände”, Push-hands) oder die Yang Style Taiji Fighting Form (3-teilige Kontaktform nach Chu King Hung)

 

Ernährung

  • In der heissen Jahreszeit unbedingt auf ausreichende Flüssigkeitsaufnahme achten (Wasser, Kräuter-, Früchtetee, verdünnte ungesüsste Obstsäfte); Alkoholika und scharfe Gewürze nur zurückhaltend zu sich nehmen
  • Um das “Feuer des Herzens” zu kühlen, d.h. für Personen vom Fülle-Typus oder bei Unruhe: Endivien, Radicchio, Rucola, Auberginen, Gurken, Mangold, Tomaten, Zucchetti, Erdbeeren, Johannisbeeren, Melonen, Grüntee
  • Um das “Feuer des Herzens” anzuregen, d.h. für Personen vom Leere-Typus oder bei Mattigkeit: grüne Bohnen, Fenchel, Kohlrabi, Lauch, Peperoni, Aprikosen, Brombeeren, Feigen, Heidelbeeren, Kirschen, Pfirsiche, Pflaumen, Rotwein, Schwarztee  

 

Heilpflanzen

  • Weissdorn (Crataegus oxyacantha, Blüten und Blätter, Früchte) bei Herzinsuffizienz, Altersherz, kreislaufbedingten Schwächezuständen, Herzrhythmusstörungen, nach Herzinfarkt, zur Blutdruckregulierung; innerlich als Tee aus Blüten und Blättern, Tinktur oder Heilwein aus den Früchten
  • Herzgespann (Leonurus cardiaca, Kraut) bei nervösen Herzbeschwerden, Herzklopfen, Herzrasen, Bluthochdruck, Unruhe und Schlaflosigkeit; innerlich als Tee oder Tinktur
  • Zitronenmelisse (Melissa officinalis, Blätter) bei nervösen Herzbeschwerden, Unruhe und Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Melancholie, bei Magen-Feuer und Fülle-Hitze des Dünndarms (d.h. nervösen Magen-Darm-Beschwerden); innerlich als Tee oder Tinktur, äusserlich (Einreibungen mit Melissengeist, Bäder) bei Herpesinfektionen, Gliederschmerzen, Migräne